Kalligraphie ist eine Disziplin, die Funktionen zu tragen hat. Wie auch
andere Kunsthandwerke, die funktional Bedingungen zu erfüllen haben,
(wie etwa die Architektur, die Weberei, die Keramik) hat die
Kalligraphie sich in ihrer Geschichte in sehr vielgestalten Formen
gezeigt. Die früheste graphische Formel, auf der Felswand vor 10 000
Jahren aufgebracht, ist ebenso Kalligraphie wie die ungelenke
Keilschrift, die dynamische hieratische Schrift oder die trockene
Minuskel aus karolingischer Zeit. Kalligraphie hat es immer gegeben, sie
hatte handfeste Aufgaben zu erfüllen; hierdurch waren ihr zuweilen die
Hände gebunden, formale Freiräume zu entdecken oder individuelle
Formulierungen zu finden. Außerdem hatten die abendländischen
Kalligraphen das Pech, ein Erbe tragen zu müssen, das nun wirklich alles
andere als »kalligraphisch« zu nennen war: das griechisch-römische
Schriftsystem. Die ägyptischen und arabischen Kollegen hatten es da sehr
viel besser: Ihre Kulturkreise entwickelten sofort nach der Entdeckung
des Buchstabensystems fließende kursive Formulierungen ihrer Schrift.
Dies ist insbesondere verständlich, wenn man bedenkt, dass ihre
Kulturkreise schon hohe Entwicklungsstufen erreicht hatten und somit das
kursive Element (als Spätform der Schrift) bereits entwickelt vorlag.
Sie hatten erlebt, dass das kursive Element weit mehr als nur den
schnellen Umgang mit den Zeichen zu bieten hatte: Kursiv ist die
Emotion, ist der Fluss, ist die Bewegung und der Ausdruck des
gegenwärtigen Lebens. Nur unsere werten Griechen wollten nicht von ihren
geometrischen Idealen lassen – und schrieben leblos. Ihr Erbe ist uns
noch heute ein kalligraphischer Ballast. Der Zufall, dass diese
trockenen Zeichen so deutlich lesbar sind – bedingt durch die große
Gegensätzlichkeit der Buchstabenformen –, gründete unsere typographische
Arroganz rund um den Erdball …
Kalligraphie aber ist etwas anderes. Das griechische Buchstabensystem
ist als Formenmaterial dürftig zu nennen: – Die Zeichenformen in ihrem
geometrischen Charakter schließen sich in sich selbst. Sie erlauben
daher keine graphisch spannungsvolle Weiterführung. – Die Formen sind
optisch sehr aufdringlich, bedingt durch ihre sehr gegensätzlichen
Formprinzipien. – Die Formen ergeben eine Reihung völlig fremd
zueinander stehender Charaktere... |